Barfuß büßen

Zwei Jahre lang sind wegen der Pandemie die Oster-Prozessionen in der Hafenstadt Taranto ausgefallen. In diesem Jahr sind die uralten Riten umso eindrucksvoller.

 Sie laufen tatsächlich barfuß. Es ist zwar nicht kalt und es regnet auch nicht, aber wenn man bloß an die Steinchen auf dem Asphalt denkt, was muss das wehtun, die Armen! „Nein, das ist falsch, so zu denken, sie haben das gewählt und wollen büßen für eine Missetat, es sind sogar Häftlinge darunter“, sagt Cinzia Fiore aus Taranto. „Wir nennen sie „i perdoni“, im Dialekt „perdùn“, also die um Vergebung Bittenden.“

Immer zu zweit ziehen die Männer seltsam schaukelnd über die Eisenbrücke, die in Taranto den „borgo“, das moderne Stadtzentrum, mit der „città vecchia“ auf der alten Insel verbindet. Sie gehen ganz langsam, als suchten sie den Weg, aber jedes Paar hat seinen Rhythmus gefunden. Viel sehen können sie nicht. Ihr Kopf ist mit einer weißen Kapuze bedeckt, die bis auf die Brust reicht. Zwei stecknadelgroße Löcher im Stoff für die Augen müssen reichen.

Dadurch wirken sie unheimlich, auch wenn sie lange weiße, kirchliche Gewänder tragen, darüber eine beigefarbene Pelerine mit Knöpfen, einen schwarzen Hut mit blauen Bändern auf dem Kopf und jeder hat in einer Hand einen weißen Stab. „Das sind uralte Traditionen, die stammen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Spanier des Hauses Aragon hier in Süditalien herrschten“, erklärt Cinzia. Die Tracht und die Riten stammen aus Sevilla. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte veränderten sie sich, wenn auch wenig

Jede Stadt in Apulien hat ihre Osterprozession, wie auch in Sizilien, aber in Taranto hat sie einen besonderen Sinn. Sie geht nicht am Ostersonntag, sondern beginnt am Gründonnerstag am Nachmittag und dauert die ganze Nacht hindurch bis Karfreitag. Die barfüßigen Sünder müssen also lange durchhalten. Wenn man genau hinschaut, werden viele von Verwandten mit prall gefüllten Rucksäcken begleitet, da ist wohl Proviant drin. Außerdem gibt es immer einige „Ersatz-Büßer“ in vollem Ornat, die zur Not einspringen können.

Langsam gehen sie in ihrem Schaukelschritt zur Kirche San Domenico, am äußersten Ende der Insel, auf der einst die Spartaner an Land gingen, es war die erste griechische Besiedlung der Magna Graeca. Dort holen sie die Statue der Addolorata ab, der trauernden Gottesmutter, ganz in schwarz. Sie wird in der Prozession, die um Mitternacht startet, wieder zurück ins Stadtzentrum getragen, begleitet nicht nur von den Büßern, sondern von Geistlichen und mehreren Musikkapellen, die Trauermusik spielen.

„Die Addolorata sucht nach ihrem Sohn, das ist der Sinn der Prozession“, erklärt Cinzia. Am Karfreitag am Nachmittag sind alle zurück in San Domenico. Die Stadt ist an den beiden Tagen gesteckt voll mit Menschen, denn die Prozession ist ein besonderes Ereignis. Während die Touristen filmen und fotografieren, gehen die Einwohner von Taranto ganz entspannt mit den Büßern um. Sie laufen neben ihnen, Autos, Busse und Mofas fahren über die Drehbrücke, nichts ist abgesperrt.

Sie gehören einfach dazu zum Leben der Stadt. Und tatsächlich, es ist keine Folklore, sondern ein Ausdruck von Frömmigkeit. Die Leute drängen sich an den Kirchen, an denen die Prozession vorbeiführt. Um als Büßer mitgehen zu können, muss man bei einer Versteigerung mitmachen. „Die Träger der Addolorata bezahlen bis zu 10.000 Euro, so begehrt ist die Aufgabe“, sagt Cinzia.

 

 

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